Xtreme Weather Tours Blog

Wenn Blitze Beton und Felsen sprengen

Unheimliche Zerstörungskraft eines Megablitzes mit 285 kA bei Neuhaus (SG) am 09.09.2014

Gepostet von Cyrill Steiger am 20. November 2017

Jeder Sturm- und Blitzjäger träumt davon, einmal in seinem Leben in der Nähe eines Megablitzes zu sein. Was ist denn ein Megablitz? Es bebt die Erde; der ohrenbetäubende Knall des Donners klingt wie bei einer Detonation einer Bombe; der Blitzkanal ist extrem hell und blendet einem sogar bei Tageslicht; es fliessen 50’000 mal mehr Strom als aus einer Steckdose mit 6 Ampère. Ich durfte einen solchen Moment erleben. Er war imposant und ist unvergesslich.

Gemäss meiner Beobachtung, sowie einer amerikanischen Studie zu diesem Thema, erreichen negativ geladene Blitze im Durchschnitt maximal 20’000 Ampère, wogegen positive Entladungen von Erdblitzen durchschnittlich rd. 10 mal stärker sind, also bis zu 200’000 Ampère betragen können. Die Erforschung dieser Tatsache steckt noch in den Kinderschuhen und man weiss noch viel zu wenig darüber, zumal es einzelne Ausreisser nach oben gibt, d.h. negative Blitze mit über 200’000 Ampère und positive Megablitze in den USA mit über einer halben Million Ampère. Forscher berichteten, dass die Donner dieser Blitze über eine Distanz von rd. 90 km hörbar gewesen seien. In Europa werden lediglich rd. 320’000 Ampère erreicht und dies äusserst selten. Ein bis zwei Dutzend Megablitze, die mit mehr als 280’000 Ampère Stromstärke zu Buche stehen, werden jährlich in der Schweiz geortet, überwiegend in hochalpinen Gegenden und in unerklärlicher Weise vermehrt zwischen Martigny im Unterwallis und der französischen Gebirgsregion „Die weissen Zähne“ (Les dent blanches). Am Alpennordhang und im Flachland sind Megablitze extrem selten. Am 09.09.2014, um 18:19 Uhr mitteleuropäische Sommerzeit (MESZ) hatte ich die Gelegenheit, nur rd. 5 km von einem solchen Blitz entfernt, ihn an einem Spotterplatz bei Vorder Schümberg am Ricken beobachten zu können, ein Megablitz mit 285’000 Ampère.

Der Nachmittag begann schon äusserst spannend, als aus Nordwesten kommend, sich linienartig drei Gewitterzellen bildeten und aus dem Schwarzwald heraus¹, sich über das Klettgau und über das östliche Gebiet bei Schaffhausen in Richtung Alpenvorraum bewegten. Die Wetterküche war am brodeln und schon mehrfach konnte ich ähnliche Lagen in der Vergangenheit beobachten, bei denen sich Zellen gegenseitig „auffressen“, d.h. einander die Energie stehlen. Doch selbst ein geübter Sturmjäger, oder ein versierter Meteorologe, kann die Entwicklung nicht vorhersagen, wobei vielfach eine der konkurrierenden Gewitterzellen die Oberhand gewinnt, den anderen den Garaus macht und letztlich dominiert. Einige Parameter kennt man, die zu diesem Effekt führen, wobei einer der wesentlichsten Bedingungen die Beschaffenheit des Geländes, also die Orografie zu nennen wäre. Doch selbst bei idealsten Voraussetzungen, ist keine zweifelsfreie Prognose möglich und nur mit viel Outdoor-Erfahrung und Kenntnisse der Gegebenheiten, aber auch etwas Glück, führt das Chasing zum Erfolg. Es ist wie bei den Pferdewetten, oder beim Kokosnuss-Hütchenspiel (siehe unten): ab einem gewissen Level ist es sehr anspruchsvoll den Überblick zu behalten. Dies gilt auch für Chaser, die in einer entscheidenden Phase, Jagd auf die richtige, überlebende Gewitterzelle machen, um möglichst nahe dran zu sein. Unter welchem „Hütchen“ ist sie?

Kokosnuss-Hütchenspiel zum üben…. 😉

Drei parallel sich nach Südosten bewegende Gewitterzellen überquerten am frühen Nachmittag des 09.09.2014 bei Schaffhausen und im Klettgau die Schweizer Grenze. Die unterschiedlichen Farben bezeichnen das Alter der Blitzmessung, wonach man auch den Zelltrack in der Analyse rekonstruieren kann (blaue Pfeile).

Die in der Grafik der Blitzortungs-Messdaten vorkommenden, unterschiedlichen Farben, verraten dessen Alter. Die Reihenfolge ist Rot, Orange, Gelb und Weiss, als die jüngsten Blitze. Die drei aus dem Schwarzwald ankommenden Gewitterzellen sind mit blauen Pfeilen kenntlich gemacht. Zu einem späteren Zeitpunkt bildete sich sogar noch eine vierte Linie im Säuliamt (gelb), wobei man auf der Grafik sieht, dass sich die Klettgauer- und die Stettfurter-Zelle im Nordostschweizer Alpenvorraum vereinten und die südwestlichste Zelle zunächst starb, aber bei Dietlikon sich später neu entwickeln konnte (s. Grafik unten).

Von vier Gewitterzellen, setzte sich die Zürcher-Oberländer-Zelle am Ende durch (weisse Blitze). Die Zelltracks sind zur besseren Kenntlichkeit mit blauen Pfeilen markiert. Ein Gewitterjäger braucht viel Erfahrung, sowie etwas Glück, um dieses „Welche Zelle wird gewinnen“-Hütchen-Spiel im Griff zu haben.

Beitrag von Joachim im Schweizer Sturmforum

Auch anhand der Archiv-Blitzdaten beim Donnerradar erkennt man die Situation mit den drei, bzw. vier Zelltracks.

Drei parallele Zelltracks waren noch zwischen 17 00 Uhr und 18 00 Uhr in der Nordostschweiz in Richtung Südosten zu verfolgen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits unterwegs, mit dem Ziel, die eine Zelle am Rickenpass abzufangen. Ich sollte recht behalten, denn diese setzte sich gegenüber den anderen Gewitterzellen durch und stahl ihnen die Energie.

In der Region Affoltern am Albis ging die südlichste Gewitterzelle zugrunde und im Appenzellischen fanden die sich zuvor über dem Thurgau vereinten Zellen ihren Gewitterfriedhof. Die von Dietlikon her kommende Zelle entwickelte sich rasch und stahl den anderen die Energie, bäumte sich auf und überlebte als Zürcher Oberländer Zelle als Einzige. Am Anfang war es für mich während dem Chasing wie ein „Hütchen-Spiel“. Doch ich konnte mich an eine Situation erinnern, die in der Vergangenheit sehr ähnlich gewesen war und begab mich nach Affeltrangen, bei Wil (SG), wo ich die weitere Entwicklung verfolgte.

Gewitterstimmung bei Affeltrangen (bei Wil / SG), kurz nach 17 00 Uhr, am 09.09.2014.

Als ich aufgrund der sinkenden Blitzrate davon ausging, dass sich die vereinten Zellen im Appenzell auflösen würden, entschied ich mich über das Toggenburg auf den Rickenpass zu fahren, um dort die eine Zelle abzufangen, welcher ich die meisten Überlebenschancen gab. Es war ein spannendes Pokerspiel, welches ich schliesslich gewann, wie sich später herausstellen sollte. Meine Intuition und meine Erfahrung hatten sich ausgezahlt. Etwas Glück, oder Pech, ist immer mit im Spiel, selbst wenn das Chasing noch so perfekt choreografiert ist. An jenem 09.09.2014 zeigte es sich bei Bütschwil, als ich lange am Rotlicht bei einer Baustelle warten musste und viel wertvolle Zeit verlor. Ich war auf dem Weg zum Rickenpass, als am Bachtel die Zelle sich massiv verstärkte, orografisch unterstützt.

Als einzige Gewitterzelle setzte sich die Zürcher Oberländer Zelle gegenüber den anderen drei Zellen durch. Sie war auch die jüngste Zelle, die sich bei Dietlikon neu entwickelte und kurz nach 18 00 Uhr am Bachtel sich verstärkte, wobei aus ihr um 18 19 Uhr bei Neuhaus (SG) ein Megablitz von 285 kA herausfuhr.

Im der 30-minütigen Animation beim Donnerradar (18 25 Uhr – 18 55 Uhr) ist diese Zürcher Oberländer Zelle sehr gut zu sehen (gif-Animation unten). Sie verstärkt sich kurz in Richtung Lindtebene, zwischen Uznach, Lachen (SZ) und Jona/Rapperswil.

Donnerradar-Zoomloop über einen Zeitraum von 30 Minuten, von 18 25 Uhr bis 18:55 Uhr. Die rot und orange blinkenden Punkte sind Blitze.

Zum Glück hatte ich zuvor einmal diese Gegend gut ausgekundschaftet und kannte einen optimalen Spotterplatz bei Vorder Schümberg, von dem aus man die gesamte Ebene, inkl. Obersee überblicken kann.

Ein idealer Spotterplatz am Rickenpass ist eine Nebenstrasse, die zum Vorder Schümberg führt. Blick nach Südosten in die Lindtebene und in die Glarner Alpen.

Spotterplatz am Vorder Schümberg mit perfekter Aussicht auf Gewitter, wenn diese aus westlichen Richtungen kommen. Ein wenig links von der Bildmitte im Dunst unten liegt Rapperswil (SG).

Vorder Schümberg, Google Maps

Von dort aus hat man einen perfekten Blick auf die sich vor einem ergiessende Lindtebene und den Obersee. Um ca. 18 10 Uhr kam ich auf dem Ricken an und hielt oberhalb von Gebertingen am Vorder Schümberg, wo ich um 18 16 Uhr anhielt, genau 20 Sekunden zu spät, um einen gewaltigen Bodenblitz in der Nähe zu filmen. Es folgten aber noch weitere Linienblitze, die in kurz danach aus der nahen Gewitterwolke heraus zuckten und in die Ebene einschlugen². Dann gab es um 18 19 Uhr (und 34 Sekunden, gemäss Ortungsdaten) ein gewaltiger Blitzeinschlag mit sehr lautem Donner bei Neuhaus (SG), das nur rd. 5 km vor mir lag. Ich war mir sicher, dass einige der Blitze mindestens 140 kA aufwiesen, da ich bereits ein ähnlich eindrückliches Erlebnis mit sehr starken Blitzen in der Nähe von Nancy (F) ein Jahr zuvor hatte.

Die Beobachtungsdistanz von meinem Spotterplatz bei Vorder Schümberg (grüne Markierung) bis nach Neuhaus / SG (rote Markierung), wo der Megablitz mit 285’000 Ampère einschlug, betrug nur ca. 5,2 km.

Brunok Distanzrechner

Stündlich werden in einem Top-10-Ranking die von der Firma Nowcast erfassten, stärksten Blitze innerhalb des Kartenausschnitts vom Donnerradar neu gelistet. Am 09.09.2014 zuckten von über 1000 gemessenen Blitzen zwischen 18 00 Uhr und 19 00 Uhr, vier vor meiner Nase, in unmittelbarer Nähe von meinem Standort in den Boden. Gemäss der BLIDS-Siemens-Blitzortung betrug die Stromstärke des Megablitzes aber nicht 234 kA (orange markiert), sondern satte 285 kA (siehe Link zu „kachelmannwetter.de“)

Donnerradar (metradar)

Immerhin waren 4 von 10 Blitzen der Top-10-Entladungen im Donnerradar-Kartenausschnitt im Zeitraum zwischen 18 00 Uhr und 19 00 Uhr in unmittelbarer Nähe nieder gegangen (Koordinaten 704/232, 205/230, 717/232) u.a. bei Neuhaus / SG (714/234), während einige tausend Blitze schwächer waren. Die obige Nowcast-Messung von 234 kA ist falsch. Die BLIDS-Siemens-Messung (bei Kachelmannwetter) von 285 kA, der ich mehr traue, ist um 51 kA höher.

kachelmannwetter, Blitzeinschlag bei Neuhaus (SG) mit 285 kA Stromstärke

Zwei Tage später, am 11.11.2014, wurde in der Zeitung „20-Minuten“ von einem sehr starken Blitzeinschlag berichtet, der am Abend des 09.09.2014 in Neuhaus (SG) grossen Schaden verursachte. Es war dieser Megablitz, der bei einem Haus sogar einen Betonboden sprengte….

Ein Blitz schlägt bei Neuhaus (SG) in den Vorgarten eines Hauses ein (20-Minuten)

„Es war als würde man uns bombardieren“ titelte die Zeitung „20-Minuten“ diesen Vorfall und veröffentlichte einen Bericht mit Fotos. Die Betonplatten wurden gesprengt, das Gartenhäuschen stark beschädigt und ein Mieter, der vor dem Fenster im Rollstuhl sass, wurde durch sein Zimmer hindurch an die Wand geschleudert!

Artikel „20-Minuten“ vom 11.11.2014 (online)

20 Minuten – «Es war, als würde man uns bombardieren»

Ergänzende Angaben und Hinweise zum Artikel:

¹) Im Lee des Feldberges (südl. Schwarzwald) bildete sich kurz nach 15 00 Uhr eine Gewitterzelle aus NW kommend in Richtung SO, die bei Waldshut / Tiengen um ca. 16 00 Uhr die Schweizer Grenze passierte.

Gewitterbildung südöstlich vom Feldberg im Südschwarzwald und im Schweizer Klettgau, um ca. 15 00 Uhr, am 09.09.2014

Ebenfalls im Lee des Randen bei Schaffhausen (Klettgau) entstand um 15 30 Uhr eine kleine Gewitterzelle, die sich später dann mit der Stettfurter-Zelle verbinden und im Appenzell eingehen wird. Kai Kobler’s Webcam mit Standort Döttingen (AG), beim Aarezufluss in den Rhein, zeigt einen beeindruckenden Zeitraffer von 15 30 Uhr – 16 30 Uhr.

Zeitraffervideo von Webcam bei Döttingen (AG)

²) Nur 20 Sekunden, nachdem ich Vorder Schümberg erreichte – so schrieb ich in meinem Chasingbericht vom 10.09.2014 im Schweizer Sturmforum – , schlug „ein gewaltiger CG nur wenige Kilometer vor mir“ ein „als ich um etwa 18 16 Uhr ankam. Leider zu spät“, um „mit der Videokamera“ noch Aufnahmen davon machen zu können.

Chasingbericht im Schweizer Sturmforum von Cyrill / 09.09.2014

Mit den nun zur Verfügung stehenden BLIDS Siemens-Daten, lässt sich diese Situation rekonstruieren. So muss ich um 18 15 Uhr und etwa 55 Sekunden am genannten Spotterplatz, oberhalb von Gebertingen angekommen sein, denn um 18 16 und 15 Sekunden schlug ein negativ geladener Linienblitz mit einer Stromstärke von 5’000 Ampère in einer Entfernung von rd. 1,2 km in den Boden ein. Zu diesem Zeitpunkt war es in dieser Region südlich des Rickenpasses die erste Blitzentladung, welche von der anrückenden Gewitterzelle aus dem Zürcher Oberland stammte.

Blitz bei Gebertingen am 09.09.2014 um 18 16 Uhr

Die Distanz von meinem Standort am Vorder Schümberg (grün markiert) bis zum mutmasslichen Ort des Blitzeinschlags, betrug nur rd. 1,2 km, was ziemlich nahe ist.

 

 


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