Xtreme Weather Tours Blog

Die Superzelle am Hochrhein vom 19.08.2008; ein Downburst-Verdachtsfall

Schwere Sturmschäden im Südschwarzwald und entlang der Schweizer Grenze

Gepostet von Cyrill Steiger am 5. November 2017

Niemand weiss bis heute wirklich genau, was eigentlich bei einer zunächst völlig unspektakulären Wetterentwicklung im nördlichen Ausläufer des Schweizer Jura’s geschieht, wenn sich dort ein kommunes Gewitter zu einer gefährlichen Superzelle entwickelt. Eine eintreffende Kaltfront wird durch die Orographie unterschnitten; die sog. Burgundische Pforte* hat mit Sicherheit auch einen Einfluss in solchen Lagen, einerseits durch den Kanalisierungseffekt zwischen dem nördlich von ihr wieder ansteigenden Gebirgszug der Vogesen und dem auf der Südseite angrenzenden Jura, der dort teilweise schon tafelartig ausläuft (Tafeljura), sowie andererseits durch die Leeeffekte östlich der Vogesen in der oberrheinischen Tiefebene.

Der Rheingraben zwischen den westlichen, französischen Vogesen (links) und der östlichen, südwestdeutschen Gebirgslandschaft beim Feldberg. Die Sundgauer Hügellandschaft bei Basel und Mulhouse ist auch als Burgundische Pforte bekannt

Wikipedia Elsass

Das südliche Elsass grenzt an das Dreiländereck bei Basel, wo die Schweiz, Deutschland und Frankreich aufeinander treffen. Es ist in verschiedene Départements gegliedert, wobei dasjenige des „Haut-Rhin“ (Hoch-Rhein) regional auf Schweizerseite, sowie im Schwarzwald gleichbedeutend keine Sprachbarriere kennt und der namensgebende Fluss vom Hochrheintal in den einige Millionen Jahre alten Grabenbruch mündet.

In der zonalen Verteilung der Naturräume erkennt man im südlichen Abschluss des Rheingrabens einen Knick nach Südosten, wo dieser in einer wannenartigen Ebene in das Sundgauer- und das Markgräfler-Hügelland eingebettet ist. Zwischen Dinkelberg und Tafeljura schlängelt sich der Rhein durch das etwas schmalere Hochrheintal, von Osten her kommend.

Der Rhein fliesst aus dem Oberrheintal in eine Tiefebene und ändert dabei seine Richtung. Die verschiedenen Naturräume ergeben sich aus den topografischen, bzw. orografischen Gegebenheiten in der Region östlich der Burgundischen Pforte

Die Einteilung in Naturräume

Der sattelartige Übergang zwischen dem Rhonetal und dem Rheingraben, welcher gleichzeitig eine Wasserscheide für beide Ströme bildet, öffnet sich nach Südwesten hin in Form einer Art breiten Tores. Die hier anströmende Luft wird bei Südwestlagen in der Region Belfort zwischen die Vogesen und den Jura gequetscht und dadurch beschleunigt. Bei diesem Effekt können durchziehende, sowie sich dort entwickelnde Gewitter sowohl verstärkt, als auch abgeschwächt werden. Die darauf einwirkenden Mechanismen im Bereich der Burgundischen Pforte sind noch ungeklärt. Doch die bisherigen Erkenntnisse lassen vermuten, dass dort die Geburtsstätte der sich rasant entwickelnden Superzellen zu lokalisieren wäre, die weiter östlich in das Hochrheintal eindrehen und dort, sowie im grenznahen Südschwarzwald, verheerende Schäden anrichten. Nach der Aktenlage zu beurteilen, dürfte es sich bei der hier analysierten Superzelle vom 19.08.2008 um ein solches Ereignis gehandelt haben, welches in seiner Expansion jedoch nicht vorhersagbar ist, da wir noch nicht alle Voraussetzungen für einen derartigen Prozess kennen. Leeeffekte im Osten der Vogesen sind sicher auch ein zu berücksichtigender Faktor, woraus lokale Bodenwindkonvergenzen entstehen, die unterstützend wirken. Aber wenn sich in der wannenartigen Mündung bei Basel die Sommerhitze in der Ebene sammelt und von Westen her eine Kaltfront im späteren Verlauf des Tages ankommt, dann wird es für Sturmjäger und Meteorologen spannend, denn überwiegend ziehen die Gewitter nach Nordosten in den Rheingraben und passieren Freiburg im Breisgau. Nur selten dreht eine nach rechts in das Hochrheintal ein.

Skizze der sog. Burgundischen Pforte, die sattelartig zwischen den beiden Gebirgszügen, den Vogesen und dem Jura, liegt und anströmende Luft aus Südwesten kanalartig lenkt.

Wikipedia Burgundische Pforte

Entsprechend einem Zitat aus dem Interview mit Felix Schacher von Meteo Schweiz, welches nach den Verwüstungen durch die Superzelle in der Zeitung „Die Botschaft“ veröffentlicht wurde, handelte es sich um eine „ungewöhnlich heftige Gewitterzelle“, die auf ihrem Weg in Richtung Rheintal „abbog“.

Sturmarchiv, Artikel in der Lokalzeitung „Die Botschaft“ vom 20.08.2008

Eine geknickte Strassenlampe, umgestürzte Bäume und weggewehte Dachziegel waren die Folge von orkanartigen Sturmböen.

„Das Unwetter kam aus der Schweiz“, lautet ein Zitat eines Helfers, das auf der Internetplattform von Skywarn-Deutschland veröffentlicht wurde, wo es weiter heisst: „Es war wie wenn das Unwetter erst am Rhein einsetzen würde.“

Skywarn Deutschland Gewitter 19.08.2008

Der Thread zu diesem Gewitter ist bei Skywarn Deutschland unter der Rubrik Tornadoverdachtsfälle behandelt; und aufgrund des Schadensmusters kann man mindestens von einer Möglichkeit ausgehen, wonach sich ein Downburst ereignet haben könnte.

Die Badische Zeitung titelte: „Orkan wütet am Hochrhein“

Badische Zeitung: „Orkan wütet am Hochrhein“

Hagelansammlungen auf Stühlen eines Strassencafés. Foto Elisabeth Frieling

In diesem Artikel hiess es weiter: „Schon am Morgen hatte der Deutsche Wetterdienst vor Sturmböen und Unwetter in den Nachmittagsstunden gewarnt. Dass es allerdings so geballt kommen würde, damit hatte wohl niemand gerechnet.“

In diesem Zusammenhang ist interessant, genau dieser Frage nachzugehen, in welchem Vorhersagezeitraum eine solche Unwetterlage allenfalls erkannt wurde. Natürlich kann ich mich dazu nur im Rahmen meiner Möglichkeiten äussern und beschränke mich auf die Fakten, die mir zur Verfügung stehen.

Normalerweise ist in Aussicht auf eine Schwergewitterlage im Schweizer Sturmforum viel los, wo bereits im Vorfeld die möglichen Wetterentwicklungen diskutiert werden. Doch bis am 18.08.2008, kurz nach 20 00 Uhr, war entweder die Lage für die meisten Nutzer zu uninteressant, oder möglicherweise zu knifflig, um aus der Kartenlage eine etwas konkretere Prognose zu erstellen. Doch Benni (Badnerland), ein versierter Sturmjäger aus Deutschland, getraute sich in einer Threaderöffnung seine erste Einschätzung zu publizieren, wobei er gleich zu Beginn feststellte, er sei erstaunt über die mangelnde Beachtung der interessanten Lage. Er rechnete mit einem Level 1 bei Estofex, deren Bulletin erst Stunden später mit einem Level 1, wie von ihm vorhergesagt, veröffentlicht wurde. Trotzdem war er etwas unsicher, ob er nicht (Zitat) „zu optimistisch“ einschätze, was in der Sprache der Sturmjäger bedeutet, dass man anhand der Wetterdaten zu sehr auf Unwetter hofft. Nicht die verheerenden Folgen stehen im Fokus, das löst auch bei versierten und erfahrenen Chasern Bedauern aus, sondern die Genauigkeit der Vorhersage und die dadurch auch gelingende Fahrt zur richtigen Zeit, an den richtigen Ort, um eindrückliche Bilder machen zu können, aber auch das Geschehen zu dokumentieren.

Schweizer Sturmforum, Threaderöffnung am 18.08.2008 von Benni (Badnerland)

Zwei Stunden später antwortete ich ihm als Erster und grenzte die Möglichkeiten etwas ein: „In Südfrankreich ist keine Auslöse zu erwarten, erst am Jurakamm…“ In der Gewitterzone liegen die Städte „Zürich, Winterthur“, sowie die „gesamte Ostschweiz und der Südschwarzwald. Du hast mit Sicherheit mein Interesse geweckt.“ Aber auch ich war mir nicht ganz sicher und schrieb: „Trotzdem habe ich etwas Bedenken, wenn das Randtief nordwärts zieht. Dann geht alles in den Rheingraben und nach Süddeutschland ‚rein und uns bleiben ein paar Blitze…..“.

Schweizer Sturmforum, Beitrag von Cyrill am 18.08.2008

Chris rechnete knapp drei Stunden später mit einer präfrontalen Auslöse bereits am Nachmittag in der Region Basel, „Nordjura und Oberrheingraben… Nach kurzer Durchsicht der Karten und Vorhersagen diverser Wetterdienste..“ 

Schweizer Sturmforum, Chris‘ Beitrag am 19.08.2008, um ca. 01 30 Uhr

Um 04 37 Uhr (02 37 UTC) am Morgen kam das Bulletin von Estofex heraus, mit einem ausgedehnten, quer über den gesamten europäischen Kontinent liegenden Level 1-Gebiet, mit der niedersten Warnstufe für Schwergewitter (low coverage of severe waeather), das sich von Polen bis nach Spanien erstreckte. Die Schweiz, nördlich der Alpen, lag in dieser Gefahrenzone und dem Forecaster van der Velde konnte man trauen, denn er war einer der Besten bei Estofex.

Estofex

In der synoptischen Übersicht schrieb van der Velde von einer schwachen Kaltfront (thermally weak), die sich über die gesamte Zone erstreckte, also bei der Nordsee im Bereich eines Tiefdruckgebietes (depression) okkludierte. Sehr interessant war sein Hinweis auf eine sog. „dry intrusion“, die offenbar bereits zu beobachten war und aus der man einiges ableiten kann. Eine „dry intrusion“ ist ein hinter einer Kaltfront mit in das Tiefdruckgebiet sich eindrehendes Trockenband, welches sich deutlich vom vorlaufenden Feuchteeinschub abhebt und kann meines Wissens bereits in der RH 700-Karte (relative humidity 700 hPa) relativ exakt vorhergesagt werden, weil dies langsame Prozesse bei der Wetterentwicklung sind. Zudem ist diese dry intrusion „well visible in WV“, wie van der Velde aufmerksam bemerkt, also nicht nur aus den Karten zu interpretieren, sondern bereits auf dem Satellitenbild sichtbar. Die Abkürzung WV steht hier für „water vapor“-images, die wie ein Fussabdruck in der Atmosphäre für absorbiertes Sonnenlicht sind (vgl. untenstehenden Link „WV images are like a footprint of absorbtion of radiation by a water vapor…“ unter der Trainingslektion nr. 4 zur Interpretation von Satellitenbildern).

Eumetrain; Trainingslektionen zur Interpretation von Satellitenbildern

Hier auch noch etwas Lehrmaterial: ein Handbuch (manual) zur Interpretation von Wolkenstrukturen aus dem All (Meteosat 8) bei Kaltfronten (Ana- und Kata-Typen). IR, RGB, VIS und WV sind im Vergleich dargestellt, wobei für Sturmjäger vor allem nachts während dem Nowcasting das Infrarotbild (IR) am hilfreichsten ist. Tagsüber erkennt man auf den RGB-Bildern am besten konvektive Entwicklungen, die sich farblich von stratiformen, oder anderen Wolkenstrukturen unterscheiden. WV-Bilder sind in der Vorhersagephase nützlich.

Wolkenstrukturen in Satellitenbildern: die Kaltfront

Van der Velde schrieb schliesslich in der Diskussion, die bei Estofex jeweils ein Warngebiet detaillierter ins Auge fasst und in einer kurzen Erklärung die wesentlichsten Vorhersageaspekte erläutert, dass leicht erhöhte SREH-Werte um 100 – 150 m2/s2 die Entwicklung von Multizellen, oder sogar Superzellen unterstützen könnten. Er schliesst sogar einen Tornado nicht aus („An isolate tornado ist not excludet“). Dafür braucht es zwar über ca. 230 m2/s2, aber diese könnten lokal höher ausfallen, als im Bulletin angegeben, wie er schrieb. Durch divergente low-level-Windfelder und einem negativen QG-forcing** sind im Gebiet vom Mitteldeutschland die Faktoren zur Unterdrückung von Gewittern stärker vorhanden.

** QG-forcing bezieht sich auf den Effekt, der in Abhängigkeit mit der Corioliskraft und dem Druckgradienten die Richtung des geostrophischen Windes vorgibt. Solange die beiden Kräfte in der Balance sind, ist quasi kein forcing, also kein Antrieb, im Sinne einer daraus resultierenden Abweichung vorhanden. Dieser Referenz wird einerseits ein positives Zeichen vorangestellt, wenn die Differenz Auftriebstendenzen zeigt, und andererseits wird ihr ein negatives Zeichen zugeordnet, wenn Abtriebstendenzen (inhibited) zu verzeichnen sind, welche z.B. dem konvektiven Potential in einer Luftmasse entgegenwirkt. (QG = Quasigeostrophischer Wind > QG-Gleichung Wikipedia ). Zum Thema des geostrophischen Windes gibt es hier u.a. eine erklärende Animation Universität Halle, Geostrophischer Wind

14 39 Uhr MESZ: „Erster kleiner Giftzwerg im Jura….“ (Schweizer Sturmforum, Eintrag von Crosley)

15 08 Uhr MESZ: „Lokale Auslöse nun bei Délemont….“ ( Schweizer Sturmforum, Eintrag von Cyrill )

15 46 Uhr MESZ: „Jetzt hat der Grenzgänger 60 dBz!“ (Schweizer Sturmforum, Eintrag von Crosley)

16 00 Uhr MESZ: „Juhuuiii, Das Teil geht nach Oberhallau.. Bin schon weg!“ (Schweizer Sturmforum, Eintrag von Cyrill )

Andere Sturmjäger waren auch unterwegs (Ben, Thies, Chris und sogar Olivier Staiger alias Klipsi aus dem Wallis) > siehe Schweizer Sturmforum, Eintrag von Klipsi

Hier mein abschliessender Chasingbericht, inzwischen leider ohne integrierte Bilder, die bei älteren Beiträgen im Schweizer Sturmforum generell fehlen Schweizer Sturmforum, Chasingbericht vom 19.08.2008 von Cyrill

Um 16 50 Uhr an der deutschen Grenze, verlor ich sehr viel Zeit infolge des Feierabendverkehrs und sass im Stau fest. Ich verpasste sie knapp und sah sie um 17 13 Uhr  in der Region Singen (D) nur noch von hinten, wobei sie auf der Rückseite schöne Strukturen und während fast 10 Minuten eine Pileus-Haube zeigte (siehe Foto).

Sicht auf die Rückseite der nach Osten abziehenden Gewitterzelle im Südschwarzwald am 19.08.2008 um 17 19 Uhr von Singen (D) aus. Über dem Aufwindturm ist sehr schön eine Pileus-Haube zu sehen, die ein Zeichen für die Produktion von Hagelkörnern sein kann. Die Aufwinde innerhalb dieser Wolke können um die 180 km/h betragen. Foto: Cyrill Steiger

Dank des neuen BLIDS-Archivs bei Kachelmann, lässt sich sogar rückwirkend meine Beobachtung rekonstruieren, die ich im Schweizer Sturmforum am Ende des Chasingberichts erwähnte.

„Um freie Sicht zu haben, entschied ich mich auf die Insel Reichenau zu fahren und hielt am Ende des Damm’s um 18 43 Uhr MESZ. ….. Ich fuhr wenig später in Richtung Hafen und bemerkte zwischen den Gewächshäusern einen eigenartigen, sprunghaften Anstieg der Temperatur von 22,5° Grad Celsius auf 23,5° Grad Celsius. Nur 20 Sekunden später schlug ein positiver Blitz rd. 150 Meter hinter mir ein – der einzige an diesem Tag, in dieser Gegend.“

Es war tatsächlich ein positiver Blitz, mit einer Stromstärke von 41 kA, der am Hafen um 18 46 Uhr MESZ, in der Nähe der Oberen Rheinstrasse, am Ende der Schlossstrasse eingeschlagen hatte. Ralph rief mich kurz danach aus dem 8 km entfernten Konstanz an und fragte mich, ob ich den „Houseshaker“ gesehen hätte. Der Donner sei noch bei ihm sehr laut gewesen. Ich verneinte, denn er war extrem hell und gleich schräg hinter mir, aber sehr laut.

Detailkarte, positiver Blitzeinschlag im Uferbereich der Insel Reichenau, am 19.08.2008, um 18 46 Uhr

Karte der Region Konstanz. Blitzeinschlag bei der Insel Reichenau, am 19.08.2008, um 18 46 Uhr

Kai Kobler veröffentlichte einige Tage später eine Theorie, wie der Downburst hatte zustande kommen können, wenn es überhaupt einer wahr. Immerhin ist es ein Verdachtsfall, aus dem man lernen kann, um künftige Gewitterzellen früher zu erkennen, die östlich von Basel ins Hochrheintal hineinlaufen. Statt dem ursprünglichen Track in gerader Richtung zu folgen (von SW nach NO), biegen sie meist kurz nachdem sie den nördlichsten Juraausläufer verlassen haben nach rechts ab und werden nicht selten zu gefährlichen Superzellen.

Hier sei die Frage erlaubt: Gibt es denn eine „typische“ Hochrheinzelle, die allenfalls durch die Bedingungen in der Burgundischen Pforte unterstützt, oder gar ausgelöst wird ? Kann man bei schleifenden Kaltfronten u.U. durch den Winkel, der beim Unterschneiden der Bergketten entlang des Grabenbruchs entsteht, ableiten, ob die Zellen in den Rheingraben, oder ins Rheintal hinein wandern ?

Ende


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