Kleine und kurzlebige Gewitterzellen am 30.06.2017 im Kanton Zürich und Thurgau
Popcorn-Chasing; die kurze Geschichte einer Punktlandung bei Eschlikon (TG)
Gegen Mittag des 30.06.2017 eröffnete ein Mitglied des Schweizer Sturmforums einen Thread zur aktuellen Lage und schrieb: „Nanu? Noch keine Diskussion zur heutigen Wetterlage?“
Schweizer Sturmforum, 30.06.2017, Threaderöffnung
Für das hochsommerliche Gewitterpotential war es tatsächlich ungewöhnlich ruhig im Forum. Normalerweise wird da die bevorstehende Wettersituation und ihre Entwicklung eingehend beschrieben und besprochen. Aber an jenem Junitag reagierte fast niemand auf die auch für die Schweiz von Estofex ausgegebene Warnstufe 1 (siehe Level 1 in untenstehender Grafik).

Estofex gab für den 30.06.2017 bezüglich der Schweiz die Warnstufe 1 aus, für starke Gewitter. Trotzdem blieb es im Schweizer Sturmforum bis zum Mittag ruhig.
In der Synopsis hiess es (hier nur auszugsweise erwähnt): „An unseasonably deep and cold trough is anchored over SW-Europe…. (Ein in dieser Jahreszeit unüblich tiefer und kalter (Höhen-)Trog hat sich über SW-Europa installiert („verankert“)..“ In Wahrheit unterstützten diese Muster einen Schwall trockener und heisser Luftmassen, welche aus Nordafrika nach Griechenland und der Türkei geführt werden, hiess es im Weiteren. „This configuration causes a winter-like geopotential height gradient over the W-/CNTRL Mediterranean.. (Dieser Aufbau verursacht einen stark ansteigenden Gradienten des Geopotentials über dem westlichen und zentralen Mittelmeergebiet, wie im Winter dies eher üblich ist.)“

Ein ausgedehnter und abgeschnürter Höhentrog über Nordwest-, sowie Mitteleuropa hat sich beinahe stationär in diesem Gebiet eingenistet und lässt auf dessen Vorderseite aus Nordafrika trockene, sowie heisse Luftmassen über Griechenland und der Türkei nach Nordosten fliessen. Zieht man eine Linie zwischen Südfrankreich und Sizilien, erhält man die kürzeste Strecke zwischen den beiden angezeigten Geopotentialen von 548 gqdam und 576 gqdam im Bereich der Trogvorderseite. Durch den in dieser Zone stark ansteigenden Gradienten wird der Jetstream, die Luft im Upper-Level beschleunigt (siehe Grafik weiter unten)
Die Luftströmungen auf der Trogvorderseite werden in den verschiedenen Schichten unterschiedlich beschleunigt. Wie bei Estofex vorhergesagt, erreichten die Upper-Level-Strömungen (Jet-Stream) sehr hohe Geschwindigkeiten. In der Analyse-Wetterkarte sind die Messwerte mit rd. 155 kt angegeben, was 287 km/h entspricht und hier eher selten ist.

Entlang des ausladenden und über Westeuropa verankerten Höhentroges verläuft der Jet-Stream, der durch den steilen Gradienten des Geopotentials noch beschleunigt wurde, ab Südfrankreich in Richtung Nordosten mit bis zu 287 km/h (155 kt), was über Europa eher selten vorkommt. Einem solchen Muster begegnet man eher im Winter, wie Estofex in der Synopsis des Forecasters hinwies.
Bei Estofex wurde speziell diese Situation angesprochen, denn die Differenz der langsameren Low- und Mid-Level-Winde zum intensiveren Upper-Level-Jet-Stream, d.h. durch das daraus resultierende vertikale Windprofil, wird das vom Forecaster erwartete Ergebnis organisierter Gewitter beeinflusst. „…while further north over N-Italy, LL-/mid-level winds relax beneath intense upper-level winds. This distribution of the vertical wind profile also affects the expected outcome of thunderstorm organization.“
Solche Konstellationen fördern auch die Tornadowahrscheinlichkeit im Bereich des „Right-Entrence“, oder „Left-Exit“ des Jet-Streams, wo sich u.a. durch den oben genannten Effekt innerhalb des vertikalen Windprofils, starke Divergenzfelder entstehen, in denen der dynamische Auftrieb die Gewitterentwicklung unterstützt und CAPE eine eher untergeordnete Rolle spielt. Kurz vor Mittag wurde im Norden Korsikas eine Wasserhose fotografiert (ESWD, Tornado-Report, 30.06.2017):
ESWD, European Severe Wheater Database
Die CAPE-Werte waren eher moderat und erreichten über Europa und nördlich der Schweiz höchstens 700 J/kg.

CAPE-Werte um 18z, als sich vereinzelt kurzlebige, isolierte Gewitterzellen bildeten
Orographisch unterstützt bildeten sich nach 18 00 Uhr MESZ über dem Alpenkamm und bei Affoltern a. Albis einige wenige, sehr kurzlebige und isolierte, kleine Gewitter. Wie Popcorn, das beim Erhitzen aufplatzt, entwickelten sich spontan einige Zellen, welche aber nach kurzer Zeit wieder in sich zusammen fielen. Eine Gewitterjagd ist bei solchen Umständen extrem anspruchsvoll, weshalb eine solche Tour „Popcorn-Chasing“ genannt wird.

Völlig unorganisiert bildeten sich einzelne kleine, kurzlebige Gewitter über dem Alpenkamm und orographisch unterstützt südwestlich der Albiskette.
Die niedrigen Taupunkte um 11-13° Grad Celsius in der Nordostschweiz waren nicht unbedingt berauschend. Bei diesen Voraussetzungen ist es eine spezielle Herausforderung, erfolgreich Gewitter zu jagen. Man sollte nicht erst losfahren, wenn eine Zelle bereits Blitze produziert, sondern bereits schon vor Ort zu sein, wenn das Stadium eines sich entwickelnden Gewitters diese elektrische Begleiterscheinung überhaupt möglich werden lässt.

11-13° Grad Celsius Taupunkte sind nicht unbedingt berauschende Messwerte in einem sommerlichen Setting, die für ein Chasing verlockend wirken….
Auf der folgenden Analysekarte kann man über Norditalien eine deutliche Delle im Bodendruckfeld erkennen, eine Vertiefung im Lee des Alpenkamms, mit Zentrum über Genua und Alessandria, die meistens nach einer Frontpassage entsteht. Man nennt dies auch Genua-, oder Vb-Tief (V = römisch 5).

Über Norditalien zeigt sich eine Delle im Bodendruckfeld, zum Beginn des Ausbaus eines eigenständigen Tiefs (Vb-Tief). Über Gesamteuropa herrscht immer noch ein ausgedehnter Kaltlufttropfen (eingeschnürter Höhentrog)
Ich beschränkte mich an diesem Tag auf das Beobachten der extrem schnellen Entwicklungen der Gewitterzellen, die kurz nach 18 45 Uhr östlich von Zürich den See überquerten (s. Radargrafik oben). Ich fuhr kurz vor 19 00 Uhr von zuhause los und vermutete eine approximative Zellverlagerung von etwa 45 km/h. Die Distanz zwischen Affoltern am Albis und Eschlikon (TG) ist 46 km. Bestenfalls würde ich also eine Stunde Zeit haben, dort die Gewitterzelle auf dem Nordostkurs abzufangen, wenn sie nicht nach Norden abdreht, oder sich vorher auflöst, was alles schon vorkam. Ich war mir aber aufgrund einer Intuition sicher und solch knifflige Wetterlagen mit hohem Risiko des Nichteintretens, steigern die innere Spannung, was enorm Spass macht.

Klassische Südwestlage: die Gewitter, die Affoltern a. Albis passieren, sind in vielen Fällen auf Nordostkurs unterwegs. Die Gewitterzugbahn führt danach über den Zürichsee bis nach Eschlikon (TG), (bzw. Aadorf in einigen Varianten, oder nach Wil / SG), in einer Distanz von rd. 46 km, für welche die Zellen im Durchschnitt 45-60 Minuten brauchen.
Die Gewitter aus dem „Säuliamt“ überqueren auf ihrem Zelltrack in Richtung Nordosten drei Hügelzüge und zwei Seen. Das Höhenprofil lässt sofort erkennen, wo die orographisch bedingten, dynamischen Hebungszonen sind und an welchen Stellen sich zwangsläufig Gewitter verstärken, je nachdem, ob es sich um Luv-, Kamm-, oder Leeauslösen handelt.

Das Höhenprofil zwischen Affoltern a. Albis und Eschlikon (TG) zeigt drei Hügelzüge, welche die Gewitter auf ihren Nordostkurs überqueren müssen und so orographisch bedingt in eine dynamische Hebungszone gelangen, in der sie sich in der Regel verstärken.
Um 19 26 Uhr positionierte ich mich oberhalb von Wittenwil, in der Nähe der Autobahnausfahrt Aadorf. Aus einer weit entfernten Gewitterzelle vernahm ich vereinzelt Donnergrollen, weshalb ich zunächst etwas euphorisch war. Doch der Blick nach Süden und Südosten liessen erkennen, wie die von den Hügel- und Bergzügen der Voralpen angehobenen, vereinzelten Gewitter keinerlei Chancen besassen, ein gewisses Entwicklungsstadium zu überschreiten und in sich zusammenzufallen drohten, was mein Chasing gefährdete. Der Rand der Wolken hatten nicht diese scharf abgegrenzten, knackigen Konturen, wie es bei sog. „gesunden“ Zellen der Fall wäre, sondern sahen aus wie triefende, nasse Watte, was ich erfahrungsgemäss als „nicht gesund“ deklariere (s. Foto unten).

Standort Wittenwil bei Aadorf. Wie durch ein Fenster sah ich in der Ferne die Wolkenformationen, welche durch die Orographie angehoben wurden und die ich als „nicht gesund“ deklarierte. Dadurch war mein gesamtes Chasing bedroht, das ich zunächst abbrechen wollte. Im Vordergrund eine sich ausregnende Zelle ohne Blitze.
Zunächst wollte ich das Chasing abbrechen, entschied mich aber wenige Minuten später anders. Um 19 42 Uhr hatte mich die Niederschlagszelle passiert und ich sah auf dessen Rückseite:

Absterbende Gewitterzelle bei Matzingen, von Wittenwil aus nach Norden fotografiert.
Ich checkte das Donnerradar (30-minütiger Loop von 19 10 Uhr bis 19 40 Uhr) und sah darauf die Blitze, die wenige Kilometer südwestlich von mir entfernt eingeschlagen hatten. Doch die Zelle starb und überquerte meinen Standort ohne Blitze zu produzieren. Etwas frustriert war ich schon, wo ich mich doch perfekt positioniert hatte:

Ich positionierte mich bei Wittenwil, das exakt in der Zugbahn der Gewitter aus Südwest waren. Die Blitzaktivität ebbte ab und die Zelle überquerte meinen Standort nur mit Niederschlag. Entfernt waren die Donner zu hören, die kurze Zeit später aber ganz verstummten (Blitze = rote, blinkende Punkte auf dem Radar)
Plötzlich hatte ich die Intuition, ich müsse mich beim Spotterplatz bei Eschlikon (TG) positionieren, den ich für eine solche Lage als Beobachtungsstandort schon seit längerem vorsah. Der weite Blick von dort aus in die vor einem sich „ergiessenden“ Ebene ist fantastisch! Das Abendrot wurde immer intensiver und beleuchtete eine Zelle, die sich vor mir gebildet hatte:

21 15 Uhr. Eine Niederschlagszelle wird von der untergehenden Sonne angestrahlt und leuchtet rot, wie ein Edelstein. Die Aussicht vom Spotterplatz aus in Eschlikon (TG) ist traumhaft.
Wie ein Popcorn, schoss plötzlich in der Nähe von Effretikon eine Gewitterzelle in den Himmel, die gleich blitzaktiv wurde, nur wenige Minuten, nachdem sie überhaupt auf dem Niederschlagsradar sichtbar wurde. Sie zog genau in meine Richtung!

21 20 Uhr, Eschlikon (TG). Blick nach Südwesten, auf die neu entstandene Gewitterzelle, die erst wenige Minuten vor dieser Aufnahme auf dem Radar erkennbar war und gleich blitzaktiv wurde. Solch kleinräumige und rasant sich entwickelnde Gewitter gehören in die Rubrik „Popcorn-Zellen“. Bei einem „Popcorn“-Chasing sollte man bereits vor Ort sein, wenn sie vor, oder über einem in den Himmel schiessen und nicht selten nach kurzer Zeit wieder sterben.
Donnerradar-Loop von 20 55 Uhr bis 21 25 Uhr:

Donnerradar-Loop von 20 55 Uhr bis 21 25 Uhr: Kurz nach 21 00 Uhr entstand bei Illnau / Effretikon, zwischen Zürich und Winterthur, eine kleine, kaum vorhersagbar „Popcorn“-Zelle, die gleich nach ihrem Erscheinen auf dem Radar blitzaktiv wurde. Sie zog genau in meine Richtung.
Eine schwarze Wand kam genau auf mich zu, dessen Niederschlagsfuss manchmal von den Blitzen erhellt wurde:

21 28 Uhr. Eine schwarze Wand mit Starkniederschlag kam auf mich zu. Ab und zu sah man, wie Blitze die Wolke kurz erleuchteten. Blick nach SW von Eschlikon (TG) aus.

Neugierig hatten sich auf den „Zuschauerrängen“ 7 Kühe eingefunden, die – ausser eine von ihnen – sich mehr für mich, als für das eintreffende Gewitter interessierten. Sie schienen das erste Mal einem Stormchaser zu begegnen…..
Plötzlich hörte die Zelle auf zu blitzen und als ein junges Pärchen anhielt, um die Aussicht zu geniessen, fragten sie mich, was ich hier mache. „Blitze fotografieren“ erklärte ich. Da es aber inzwischen nicht mehr blitzte, sahen sie mich etwas fragend an und ich erläuterte, dass ich mit einer Reaktivierung der Zelle rechne, welche noch bis vor Eschlikon blitzaktiv gewesen sei. Nur wenige Sekunden danach schlug nur 4 km entfernt ein negativer CG in den Boden. Nach den Messdaten der Blitzortung hatte er eine Stromstärke von 15’000 Ampère.
Blitzeinschlag in Entfernung von 4 km, 21 38 Uhr
Es bleibt der einzige Erdblitz in der Nähe meines Spotterplatzes

CG (Cloud-to-griund) Blitzeinschlag in einer Entfernung von nur 4 km.
Kurz danach zuckte ein Wolkenblitz quer über den Himmel über mir, die letzte Entladung dieser sterbenden Zelle. Als ich das „Klick“ meiner Kamera hörte, wusste ich: der ging voll in die „Fotofalle“! Mein „Popcorn-Chasing“ war ein voller Erfolg. Super Punktlandung!

Der letzte Blitz der sterbenden Gewitterzelle war ein CC (Cloud-to.cloud) um 21 45 Uhr, der sich quer über den Himmel über mir ausbreitete.
Letzter Blitz bei Münchwilen (TG) um 21 45 Uhr
Blitzkarte Schweiz um 21 50 Uhr….
Einen kurzen Chasingbericht habe ich bereits im Schweizer Sturmforum publiziert:
Schweizer Sturmforum, Kurzer Chasingbericht
Dieser Spotterplatz bei Eschlikon (TG), beim Restaurant „Säntisblick“, habe ich bei „localplaces.ch“ mit dem Bild von der Wolke im Abendlicht (s. oben) online gestellt (search.ch).
Bild von der Niederschlagszelle bei Eschlikon (TG) auf „localplaces.ch“