Xtreme Weather Tours Blog

Funnelclouds / Tornado-Verdachtsfall am 09.10.2016 in Kesswil

Zwei äusserst dynamische Trichterwolken während eines Gewitters werden hier noch einmal sorgfältig analysiert, um anhand der vorgelegten Beweise den Status „confirmed QC1“ zu erhalten

Gepostet von Cyrill Steiger am 27. November 2017

Es war Anfang Oktober 2016. Die Gewittersaison war seit Mitte September bereits beendet und die Stormchaser waren bereits mit der Auswertung ihres Film- und Fotomaterial beschäftigt, welches sie in den Sommermonaten mit ihren Kameras aufgenommen haben. Dazu gehörten auch Recherchen, die man erst in der weniger hektischen Zeit überhaupt machen kann, weil sie ziemlich aufwändig sind. Am 09.10.2016 hatte ich etwas im Kanton Thurgau zu erledigen und als ich dort ankam, sah ich bereits erste Zellen über dem Bodensee, die verdächtig konvektiv aussahen. Für die Jahreszeit sind Gewitter höchst selten. Neugierig auf die weitere Entwicklung, blieb ich vor Ort, statt wieder nach Hause zurück zu fahren, legte den inneren Schalter auf  „Chasingmodus“ um und sogleich erwachte (wie immer in solchen Situationen) mein Jagdinstinkt. I was hot on the trail!“ (dt. Übers. „Ich war einer heissen Sache auf der Spur“). Ein US-Amerikaner hätte möglicherweise in einem vergleichbaren Moment so etwas gedacht, oder gesagt. Ich fuhr los und konnte wenig später bereits zwei Funnelclouds fotografieren (sind in einem separaten Bericht hier im Blog beschrieben). Das machte mich nur noch „heisser“. Mein Chasing führte mich zu einer Niederschlagszelle in der Nähe von Kesswil am Bodensee, wo ich in der bereits um 18 30 Uhr einsetzenden Dämmerung einen Spotterplatz in unmittelbarer Nähe suchte. An der Magerwis in Kesswil fand ich eine Gewerbe- und Lagerhalle mit einem Vordach, wo ich mich vom einsetzenden Regen etwas schützen konnte.

An der Magerwi in Kesswil fand ich einen idealen Spotterplatz, vor einer Gewerbe- und Lagerhalle, bei der man etwas Schutz vor dem starken Regen hatte. Gegenüber der Hallen hatte man einen freien Blick über die Felder; ideal um das unerwartet-aufkommende Gewitter mit Blitz und Donner zu fotografieren.

Freier Blick nach Süden, von Magerwis bei Kesswil.

Gegenüber der Fassade der Hallen breitete sich ein weites Feld mit Äcker und Gewächshäuser aus, welches den Blick in die Ferne, nach Süden, Südosten und Südwesten erlaubte. Plötzlich zuckten Blitze und die kurz darauffolgenden Donner verrieten mir, dass sich unmittelbar vor und über mir ein Gewitter entwickelt hatte. Punktlandung! Erst bei meiner Analyse hier wurde mir klar, dass es zwischen Lyon, Dijon, Freiburg im Breisgau, Memmingen, Padua und Turin zu dieser Zeit keine Blitze, d.h. keine aktiven Gewitter gab (vgl. Link kachelmannwetter.de unten)!

Um 18 30 Uhr gab es keine Gewitteraktivität im gesamten Kartenausschnitt von Mitteleuropa (inkl. gesamte Schweiz)

Rund 10 Minuten vorher entlud sich bei Schwyz ein einziger, schwacher Wolkenblitz…….

Wolkenblitz in der Nähe von Schwyz um 18 19 Uhr

…… und ein weiterer Wolkenblitz (CC) wurde über Bichwil / Oberuzwil um 18 22 Uhr registriert.

Wolkenblitz bei Bichwil / Oberuzwil um 18 22 Uhr

Um 18 30 Uhr stieg ich kurz vor Kesswil aus dem Auto, um von der pechschwarzen Wolkenwand vor mir einige Fotos zu schiessen. Es wurde finster und die Strassenbeleuchtung ging an, denn es war durch die Dämmerung sehr dunkel geworden:

Blick in Richtung Norden von der Strasse vor Kesswil auf den Bodensee hinaus. Eine schwarze Woleknwand schob sich über mich und hüllte alles in eine gespenstische Dunkelheit, wie beim Einbruch der Nacht. Es begann zu regnen. Zeit (nach den Exif-Daten): 18 30 Uhr

Ein greller Blitz mit lautem Donner zuckte um 18 31 Uhr, nur rd. 4 km östlich von mir entfernt, in den Boden.

Eine sich genau über mir neu gebildete Gewitterzelle produzierte um 18 31 Uhr den ersten Blitz (CG)

Sofort richtete ich die Kamera neu nach Osten aus, direkt auf die Zelle, aus der ein CG schoss. Die Lichtverhältnisse wurden um 18 35 Uhr immer prekärer:

Diese niederschlagsintensive Gewitterzelle bei Kesswil / TG produzierte um 18 31 Uhr den ersten CG (Cloud-to-ground-Blitz). Dieses Foto machte ich um 18 35 Uhr, in der Hoffnung einen Blitz aufnehmen zu können. Zum Fotografieren wurden die Lichtverhältnisse zunehmend ungünstiger.

Nur wenige Minuten später positionierte ich mich neu bei Magerwis (s. oben), wo ich auch ein Dach fand, das mich vor dem Regen schützte. 18 38 Uhr: ein weiterer CC entlud sich in dieser Gewitterzelle (bei Hamisfeld / Dozwil). Es gelang mir nicht ihn zu fotografieren.

CC bei Hamisfeld / Dozwil um 18 38 Uhr

Erneut gab es um 18 47 Uhr eine Entladung eines CC’s, wobei zwei Messpunkte beim Blitzortungssystem eingetragen sind: 1. Hamisfeld und 2. eine Stelle am südlichen Rand des Güttingerwaldes, nahe der Ortschaft Sommeri. Es dürfte hilfreich sein, anhand dieser Angaben den ungefähren Zelltrack, die Zugbahn und die Dauer des Gewitters ermitteln zu können.

CC bei Hamisfeld und gleichzeitig bei Sommeri

Ganze 10 Minuten vergingen, bis bei Chressibuech / Hatswil, östlich von Hefenhofen, ein weiterer CC den Himmel erleuchtete. Registriert wurden aber 5 Blitze zur selben Zeit:

Östlich von Hefenhofen erhellte um 18 57 Uhr der nächste Blitz die Gewitterzelle

Um 18 57 30 Uhr und 1 Sekunde später wurden insgesamt 5 Blitze registriert

Sowohl im 11 km entfernten Birnstiel / Hauptwil-Gottshaus schlug ein CG ein, als auch im benachbarten Birestil bei Wilen (Doppelentladung) und ein CC bei Güttingen (zeitgleich)

CG bei Birestil um 18 57 Uhr

CC bei Güttingen um 18 57 Uhr

Der letzte Blitz aus dieser Gewitterzelle entlud sich um 19 00 Uhr (13 Sekunden) mit sieben (!) Messpunkten, wovon nur einer ein CG war. Dieser schlug zwischen Kesswil und Güttingen in den See, während der CC sich von da bis nach Amriswil erstreckte:

Ein CG schlug in den Bodensee. Weitere 4 Mespunkte von CC-Entladungen zur gleichen Zeit in unmittelbarer Nähe

Zwei der 7 Blitzmesspunkte wurden über Amriswil um 19 00 Uhr registriert

Als ich um 18 38 Uhr über den Acker und die Gewächshäuser in Richtung Süden schaute, entdeckte ich plötzlich eine nach unten hin konisch zulaufende Wolkenabsenkung, wie bei einer Funnelcloud (Bild 01).

Bild 01

Zunächst dachte ich, es könnten auch Fraktusfetzen sein. Doch die verschiedenen Stränge wirbelten wild umher und schienen sich, wie bei einem Multivortex-Tornado, um eine innere, zentrale, fast vertikale Rotationsachse zu drehen (s. Bild 02).

Bild 02

Diese faserigen Stränge rotierten aber nicht nur um eine Art imaginäre Luftsäule, sondern sie stiessen ab und zu nach unten vor, zogen sich wieder zurück und schienen sich in pulsierenden Phasen mehr oder weniger zu kondensieren. Die ersten vier Bilder machte ich in der ersten Minute. Weitere 5 Bilder entstanden in den darauf folgenden Minuten, von 18 39 Uhr bis 18 40 Uhr.  Hier alle 9 in einem 9er-Block zusammengefasst (links oben nach rechts unten):

Diese 9 Aufnahmen der Funnelcloud entstanden zwischen 18 38 Uhr und 18 40 Uhr, von Kesswil aus gesehen in Richtung Süden

Es folgen hier in voller Grösse die Aufnahmen 03 – 09:

Bild 03 Rechts vom rotierenden Wolkengebilde zeigte sich ein deutlich auskondensierter Strang……

Bild 04, …..der sich gleich darauf wieder auflöste…

Bild 05 Aus dem südöstlichen Teil stösst seilartig sich windend einer der Stränge in Richtung Boden vor

Bild 06 Aus der Wolkenabsenkung schraubt sich eine S-förmige und sehr dynamische Funnelcloud nach unten. Es ist schwer zu sagen, ob der Wolkenschlauch den Boden berührte, oder nicht.

Bild 07 Sekunden später hatte sich der Wolkenschlauch wieder aufgelöst.

Bild 08 Im Normalfall treten Fraktus in Gruppen, in ganzen „Verbänden“ und „Kolonien“ auf. Ihre Veränderungszyklen sind sehr langsam und sie rotieren nicht. In diesem Bild hier ist ein einziger massiver, konisch nach unten hin, trichterförmig zulaufender „Zapfen“ zu sehen der rotiert.

Bild 09 Und wieder stiess um 18 40 Uhr diese Funnelcloud nach unten vor….

Auf den Aufnahmen 10 bis 18 sind die nächsten 2 Minuten des Lebenszyklus dieser Funnelcloud zu sehen (18 41 Uhr bis 18 43 Uhr):

Diese 9 Bilder entstanden zwischen 18 41 Uhr und 18 43 Uhr. Deutlich ist diese enorme Dynamik dieser Funnelcloud zu sehen

Grossaufnahmen Bild 10 – 18:

Bild 10 Manchmal entstand unter der Wolkenabsenkung ein dünner, seilartiger Strang….

 

Bild 11 ….dann entstand wieder eine trichterförmige Struktur

Bild 12

Bild 13 Ein deutlich sichtbarer „Zapfen“ stösst nach unten. Die Funnelcloud könnte Bodenkontakt gehabt haben. Dann würde er den Begriff Tornado verdient haben

Bild 14

Bild 15

Bild 16 Auch bei diesem Bild stösst der Wolkenschlauch nach unten vor.

Bild 17

Bild 18

Auf den Bildern 19 und 20, die ich um 18 44 machte, sieht man das Auflösestadium der ersten Funnelcloud…

Bild 19 und 20

Danach verstrichen rd. 10-11 Minuten, bis eine zweite Funnelcloud um 18 55 Uhr aus derselben Zelle sich nach unten schraubte (Bild 21). Es könnte auch sein, dass ich die Entstehungsphase verpasste und der Unterbruch zwischen dem ersten und dem zweiten Vortex kürzer war.

Bild 21 Erneut bildete sich ein Vortex, sehr dynamisch und mit deutlich an einer Mutterwolke hängender Trichterwolke

Bild 21 Um 18 55 Uhr bildete sich erneut eine Funnelcloud, etwas nordwestlich der ersten. Da der Scheitelpunkt der trichterförmigen Wolke hinter dem Hügel war, ist schwer zu sagen, ob es sich hier sogar um einen Tornado, d.h. einer Grosstrombe mit Bodenkontakt gehandelt hatte.

Geradezu spektakulär war die Endphase des zweiten Vortex, zwischen 18 56 Uhr und dem Auflösestadium am Ende, um 1858 Uhr, kurz bevor der letzte Blitz aus dieser Zelle am rechten Bildrand in den Bodensee schlug.

Bild 22 bis Bild 27 Der zweite Vortex zwischen 18 56 Uhr und 18 58 Uhr war ebenso dynamisch wie der erste, nur tanzten hier die „Seile“ oder „Stränge“ noch deutlicher um eine zentrale Achse und es sah aus wie mehrere Satellitentornados bei einem Multivortex-Wolkengebilde.

Bild 22 Hier sind mehrere, bis hinter den Wald hinab reichende, seilartige „Stränge“ aus Wolkenfetzen zu sehen, die wild tanzend und in ihrer Form ständig ändernd, um eine zentrale Luftsäule kreisten, die nicht immer sichtbar war. Im Tornadojäger-Mekka USA, heissen dünne Trichterwolken, die wie Schläuche aus ihrer Mutterwolke ragen, „Rope-Tornados“, weil sie an gewundene Seile erinnern. Sie kreisen bei einem Multivortex-Gebilde, um den zentralen, inneren Main-Vortex.

Bild 23

Bild 24 Close up!

Bild 25 Das trichterförmige Wolkengebilde beginnt sich aufzulösen.

Bild 26 Der Konus wurde deutlich flacher, die Rotation verlangsamte sich….

Bild 27 ….und um 18 58 Uhr war der Zauber vorbei…

Auf den ersten 9 Aufnahmen sieht man im Vordergrund die Gewächshäuser, südlich von meinem Standort vor den Gewerbehallen bei Kesswil. Im untenstehenden Satellitenbild, habe ich meinen Standort (rotes, grosses Feld), sowie die gedachte Linie der Beobachtungsrichtung nach Süden (gelb) eingezeichnet. Im kleineren roten Feld rechts ist eine Häusergruppe auf Höhe der gräulich schimmernden Gewächshäuser markiert, links von der Kesswilerstrasse. Die Position der Trichterwolke ist nicht genau rekonstruierbar, deshalb ist sie nur approximativ eingezeichnet.

Auf einem Satellitenbild habe ich meinen Spotterplatz bei Kesswil, die Siedlung bei den Gewächshäusern, die Beobachtungsrichtung (gelb) und schliesslich symbolisch in einer approximativen Entfernung die Funnelcloud (grau) eingezeichnet, damit man sich ein Bild von der Situation machen kann.

Wenn wir nun im 3D-Bild von Amriswil über Hefenhofen nach Kesswil schauen, sind die Gewächshäuser vor diesem Dorf rötlich eingefärbt. Die Gewerbezone rechts davon in Richtung See (auch rot) markiert meinen Spotterplatz. Man sieht rechts im Bild Hamisfeld und Dozwil, wo die ersten Blitze geortet wurden und erkennt entlang der Uferzone des Bodensees im Hintergrund die beiden Dörfer Kesswil (rechts) und Güttingen (links), an dessen Verbindungsstrasse ich um 18 30 Uhr, vor der ersten Blitzentladung, ein paar Fotos der Zelle machte und wo um 18 57 Uhr der letzte CG in den See einschlug. Wir blicken in gerader Richtung von Amriswil über Hefenhofen entlang der Gewitterzugbahn, die etwa perspektivisch betrachtet parallel zur Hauptstrasse zwischen Brüschwil und Dozwil vermutlich verlaufen war, auf welcher auch die beiden Funnelclouds entstanden sind.

Auf dieser 3D-Karte blicken wir in die Fluchtrichtung der blitzaktiven Zelle zwischen Amriswil und dem Bodensee, zwischen Kesswil und Güttingen, wo sich auf diesemTrack zwei Mal eine Funnelcloud gebildet hatte, die allenfalls auch Bodenkontakt besass (Tornado-Verdachtsfall).

Wenn wir uns nun einmal die Dopplerradar-Bilder in der fraglichen Zeit anschauen, bemerken wir, dass um 18 15 Uhr im Windfeld noch eine einheitliche Strömung (rot) herrschte, bevor die Gewitterzelle elektrisch wurde. Danach (um 18 40 Uhr) erkennt man deutlich Rotationssignaturen über dem Gütingerwald, genau in dem Zeitpunkt, als ich die ersten Bilder von der Funnelcloud machte.

Auf dem Dopplerradar ist um 18 15 Uhr das Windfeld noch relativ einheitlich

Auf dem Dopplerradarbild von 18 40 Uhr, ist eine sich berührende Rot/Grün-Signatur zu sehen. Die Messdaten zeigen über dem Güttingerwald, nördlich von Amriswil, Rotation an (Bild oben). Die Gewitterzelle hatte sich in Richtung Bodensee, zwischen Güttingen und Kesswil bewegt, wo sich hinter einer Siedlung um 18 55 Uhr einen zweiten Vortex aus der Wolkenbasis schraubte, der bis 18 58 Uhr zu beobachten war. Ich habe auf dem Radarbild die wieder sich berührenden, einander entgegen laufenden, microskaligen Windfelder (rot/grün) mit einem hellblauen Kreis eingerahmt (Bild unten), wobei dieses überdeutliche Muster im Mindesten auf die günstigen Voraussetzungen für die Bildung einer veritablen Funnelcloud schliessen lassen. Vielleicht gab es sogar einen schwachen F0-Tornado. das lässt sich rückwirkend leider kaum rekonstruieren.

Eine Dopplerradar-Signatur zeigt über dem Güttingerwald Rotation an, just dort, wo ich die Funnelcloud fotografierte. 18 40 Uhr

kachelmannwetter.de – Radarsignatur von 18 55 Uhr bei Kesswil

 

Nach dem Ende des Gewitters fuhr ich nach Hefenhofen, an die Dozwilerstrasse 2, wo ich grosse Mengen Kleinhagel und abgerissenes, frisches Blattwerk auf der Strasse vorfand.

In der Nacht auf den 10.10.2016 veröffentlichte ich im Schweizer Sturmforum einen allgemeinen Chasingbericht und gab mein Urteil über ein Webcambild mit einer Funnelcloud über dem Bodensee ab:

Schweizer Sturmforum. Chasingbericht von Cyrill, 09.10.2016

KaiKo in Döttingen entdeckte auf einem Webcam-Bild eine dünne, aber in ihrer Form sehr schöne Funnelcloud über dem Bodensee, am 09.10.2016

Schweizer Sturmforum, Antwort von Chris

Schweizer Sturmforum, Chris legt den Verdachtsfall ad acta

Meiner Meinung nach und aufgrund der Radardaten und nun vollständigem Bildmaterial, müsste das Ereignis noch einmal genau beurteilt und als Verdachtsfall ins Sturmarchiv eingetragen werden. Mindestens die Funnelcloud hat ein QC 1 (confirmed) verdient….

 


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