FCST, signifikante Schwergewitterlage vom 20.06.2021
FCST ist die Abkürzung des Begriffs „Forecast“, was soviel wie „Prognose / Vorhersage“ bedeutet und in Kurzfrist-, Mittelfrist- und Langfrist-Zeiträume unterteilt wird, in denen mit dem Näherrücken des Events (bzw. der Episode der vorhergesagten Wetterphänomene) auch eine genauere Umschreibung gelingt. Diese Forecast-Zeiträume enden mit dem Eintreten der vorhergesagten Ereignisse, mit dem Beginn des Geschehens, am zeitlichen Anfang der Episode. Diese kann in eine mehrere Tage andauernden Schwergewitterlage eingebettet, bzw. von weiteren Episoden in den vorangegangenen, oder noch eintreffenden Tagen flankiert sein. D.h. wie im vorliegenden Fall dominiert ein sehr langsam sich nach Osten bewegender Höhentrog die Wetterentwicklung schon seit Tagen. Er ist sogar in Bezug auf die fast geostationär sich verhaltende Trogachse ziemlich persistent, was der Abtropfprozess der nach Süden laufenden Höhenkaltluft begünstigt. Diese fängt sich in einem sich abschliessenden Höhentief, weshalb dieses in der Fachsprache auch „Cut-off-low“ heisst. Auf dem Bild unten ist dieses Einschnüren bei Irland gut erkennbar.
Es handelt sich hier um einen Langwellentrog, dessen West-Ost-Druckgradient im Vergleich zu Kurzwellentrögen eher flach ist und mit dem langsamen Fortschreiten, bzw. mit der entsprechenden Tendenz des Durchpendelns nach Osten die Bildung markanter Druckwellen eher vermindert. Umso mehr haben die Höhenwinde die Finger im Spiel und mit ihnen das gesamte daran gekoppelte System. Dabei spielen Boden-Hoch- und Boden-Tiefdruckgebiete eine wichtige Rolle, die unterhalb der 500 hPa-Isobare, welche die Höhendruck- und Bodendruckverteilung trennt, die Windsysteme anzeigt. Sehr schön zu sehen, der zweite KLT (Kaltlufttropfen) über dem Balkan, der in Bezug auf den Erstgenannten in der Biskaya blockierend wirkt. Ein Azoren- und ein Russlandhoch spielen eine weitere nicht unwesentliche Rolle. Doch die hier angedeutete, aber keine im herkömmlichen Sinne „klassische“ 1010 hPa-Tiefdruckrinne von Nordafrika nach Skandinavien ist eine wichtige Komponente in diesem Event.
Schon in Bezug auf den Samstag (gestern) und auf Frankreich, klang es bei ESTOFEX schon sehr vielversprechend: „Impressive kinematic setup is forecast across the area, supporting high degree of convective organisation..“
Ein weiträumiges Level 2 wurde ausgegeben; keine Seltenheit, wenn auch beachtenswert! „Intense and long-lived supercells and/or bow-echoes are forecast following the succesfull initiation.“
European Storm Forecast Experiment – ESTOFEX
Das gesamte Setup fand ich aber so gut, dass ich gestern Abend um 19 00 Uhr einem Freund (Daniel Grutsch) in einem Telefongespräch vorhersagte, dass ein Upgrade auf Level 3 bei Estofex mehr als wahrscheinlich, wenn nicht sogar logisch sei und es sich vorwiegend auch auf die Schweiz beziehe – und rd. 7 Stunden 54 Minuten später, um 02:54 Uhr MESZ kam das aktuelle Bulletin heraus, mit dem von mir erwarteten Level 3 (die höchste Warnstufe) über der Schweiz, was meines Wissens historisch gesehen das erste Mal geschah. Zudem ist es in diesem Jahr das erste Level 3 von ESTOFEX.
„With the onset of daytime heating and increasing warm air advection aloft, suppressed vertical mixing in this slightly cooler but moist air can create a „loaded gun“ situation with CAPE approaching or even exceeding 2000 J/kg.“
Bei solchen gefährlichen Unwetterlagen wie heute, sprechen Meteorologen und Sturmjäger gerne von einer „Loaded Gun“-Situation, mit der eine Lage bezeichnet wird, in der die Bedingungen für Gewitterbildung zwar optimal sind, doch die kontinuierlichen Entwicklungen unterdrückt werden; es also wie bei einem Dampfkochtopf einen Punkt gibt, wo der Druck vom Gegendruck nicht mehr in Schach gehalten werden kann und es zu einer explosionsartigen Entwicklung kommt. In der Regel sind es die CIN-Werte (convective inhibition), welche die CAPE (convective available potential energy) unterdrücken. Heute ist es aber komplexer und primär abhängig von diversen Winden auf verschiedenen Levels (Ebenen in der Troposphäre), die im Mittelland zu Konvergenzen führen, die auch den stärksten „Deckel“ (CIN) durchbrechen können.
„In addition, surface winds gradually veer from westerly to northerly to easterly directions under the influence of an Alpine heat low. Depending on the balance between this Alpine pumping and a possible downward propagation of hot and dry Foehn winds in the central Alps, the convergence zone may further sharpen and attain the characteristics of a dryline in the course of the day while it is predicted to remain stationary along the north Alpine rim.“
Demzufolge ist diesem hier zitierten Abschnitt aus dem heutigen Estofex-forecast besondere Bedeutung beizumessen, weil eben diese Bodenwinde einerseits durch ein alpines Hitze-Tief, aber auch durch den Föhn steuernd beeinflusst werden. Mit Ankunft einer dem Höhentief vorgelagerten Kaltfront, prallt die trockene, warme und durch die Orografie (das ist die Bodenbeschaffenheit, bzw. das Relief der Gebirgszüge) nach Nordwesten ausfliessende Föhnströmung (die im Prinzip Gewitter hemmt) auf die feuchte, kalte, aus Westen ins Mittelland vordringende Kaltluft und wirkt dort wie ein Keil, wobei man diese Konvergenz „Dry line“ nennt. Sie ist in der Regel stationär, d.h. die dort sich bildenden Zellen, bzw. Zellverbände profitieren von der Instabilität entlang dieser SSW-ONO (Genfersee-Hochrhein)-Linie. Aktiviert sich noch ein Hitze-Tief, gerät das Ganze unter den Einfluss von wechselnden Bisen- und Nordwindtendenzen, was als Ganzes gesehen ein äusserst komplexes Zirkulationsphänomen ergibt, dem man die Bezeichnung „Alpine pumping“ zuordnete. Es kann hier nicht erschöpfend erklärt werden: „Es ist unmittelbar einleuchtend, dass das Phänomen
des Alpinen Pumpens zahlreiche Modifikationen je nach Wetterlage erfährt, wobei weitere meteorologische Parameter wie atmosphärische Stabilität, Jahresgang der Bodentemperatur, Schneebedeckung in höheren Lagen und synoptischer Druckgradient hineinspielen. Die thermischen Antriebskräfte zwischen Alpen und Alpenvorland konkurrieren und überlagern sich mit diesen anderen Antriebskräften, was infolge der komplexen Wechselwirkungen zu vielfältigen
Detailausprägungen führt.“ Vol_32-1-2.qxd (dlr.de)
Von der Höhenströmung und des geostrophischen Windes beeinflusst, verlagern sich die erwarteten Zellen, bzw. das langlebige (long-lived) MCS sehr schnell, „von Bern bis Leipzig“ (gem. Estofex), mit einem für solche Systeme typischen sog. „Bogen-Echo“ („The mean track of a long-lived bow echo – shall it develop – runs roughly from Bern (Switzerland) towards Leipzig (Germany).“).